Die 37jährige deutsche Staatsangehörige K ist in der Türkei geboren, geschieden und hat ein Kind. Während eines Erholungsurlaubes in Istanbul verbrachte sie den Silvesterabend 2016/2017 in einem der bekanntesten Nachtclubs auf der europäischen Seite von Istanbul, in dem es um etwa 1:15 Uhr zu einem Terroranschlag des Islamitischen Staates (IS) kam. Hierbei wurden 37 Menschen getötet. Laut den behandelnden Ärzten erlitt K infolge des Anschlags u.a. Schnitt- und Fremdkörperverletzungen an den Kniegelenken und beiden Unterschenkeln sowie eine posttraumatische Belastungsstörung. Aus Bundesmitteln für Opfer terroristischer Straftaten erhielt K eine pauschale Härteleistung von 5.000 €. Im dortigen Antrag beschrieb K, dass sie sich zum Anschlagszeitpunkt im Nachtclub weiter hinten aufgehalten hätte. Nach den Schüssen hätte sie sich sofort auf den Boden gelegt; später sei sie von Sicherheitskräften gerettet worden. Vor der Tür hätten Scherben und Gläser gelegen, an denen sie sich verletzt habe.
Ihren Antrag vom November 2017 auf Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) lehnte das Land Baden-Württemberg ab, weil sich K über die seinerzeitigen Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes hinweggesetzt und damit selbst in Gefahr gebracht habe. Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos. Mit ihrer Berufung hat K geltend gemacht, es sei ein absurder und rechtlich unhaltbarer Gedanke, dass sich Menschen an Silvester zu Hause einschlössen und keine Festlichkeiten aufsuchten.
Mit Urteil vom 18.02.2021 hat der 6. Senat des Landessozialgerichts bestätigt, dass der K keine Entschädigung nach dem OEG zusteht: Zwar sei K bei dem Terroranschlag Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriffs geworden, bei dem sie einen Gesundheitsschaden erlitten habe. Ein Anspruch nach dem OEG sei allerdings aufgrund Unbilligkeit ausgeschlossen. Denn K habe sich über die seinerzeitigen Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes dadurch hinweggesetzt, dass sie in der Silvesternacht den betreffenden Nachtclub in Istanbul aufgesucht habe, welcher ein Treffpunkt für prominente und zahlungskräftige ausländische Touristen gewesen sei. Nach der seinerzeitigen Reisewarnung habe nach dem Putschversuch in allen Teilen der Türkei grundsätzlich eine terroristische Gefährdung, insbesondere in den großen Metropolen, bestanden; Reisende hätten Menschenansammlungen und Orte, an denen sich regelmäßig viele Ausländer aufhielten, möglichst meiden sollen. Da sich K hierüber aus freier Entscheidung hinweggesetzt habe, müsse sie die Konsequenzen hieraus im Sinne einer Eigenverantwortung tragen. Unmittelbare Hilfe wie die Entschädigung der Bundesregierung oder ärztliche Behandlung habe sie ohnehin direkt nach der Tat erhalten. Die begehrte Entschädigung nach dem OEG gehe darüber hinaus. Im Übrigen verfüge die Türkei auch über ein staatliches Entschädigungssystem, sodass diese Ansprüche vorrangig gegenüber Ansprüchen nach dem OEG sein dürften.
Hinweis zur Rechtslage: Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhält, wer im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Gem. § 3a Abs. 2 OEG erhalten Geschädigte die auf Grund der Schädigungsfolgen notwendigen Maßnahmen der Heilbehandlung und der medizinischen Rehabilitation einschließlich psychotherapeutischer Angebote. Darüber hinaus erhalten Geschädigte ab einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 10 bis zu einem GdS von 20 eine Einmalzahlung von 800 €, bei einem GdS von 30 und 40 eine Einmalzahlung von 1.600 €, bei einem GdS von 50 und 60 eine Einmalzahlung von 5.800 €, bei einem GdS von 70 bis 90 eine Einmalzahlung von 10.200 € und bei einem GdS von 100 eine Einmalzahlung von 16.500 €.
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